Der Theologe und Buchautor Johannes Schleicher erläuterte, wie Mystik im Alltag erfahrbar ist
„Mitmensch Gott. Mystische Spiritualität für heute“ war der etwas sperrige Titel eines Vortrags von Johannes Schleicher im Pfarrzentrum St. Andreas in Ochsenfurt. Doch das, was der Theologe und Buchautor den knapp 40 Zuhörerinnen und Zuhörern am Donnerstag, 13. März, erläuterte, war absolut lebensnah und für ihn selbst sogar lebensverändernd. „Mystische Spiritualität macht Menschen selbstbewusst und mündig, da sie uns zusagt, dass Gott in uns allen wohnt und im Alltag erfahrbar ist“, erklärte er gleich zu Beginn seiner Ausführungen.
Der Referent stellte fest, dass „viele Menschen Angst vor dem Wort ‚Mystik‘ haben.“ Dabei gehe es lediglich um ein „Schauen nach innen, in die eigene Tiefe“. Ein Mystiker ist demnach ein Mensch, der „vom bloßen Glauben und den dazugehörigen Systemen zur inneren Erfahrung übergegangen ist, der also nicht Gott sucht, sondern sich von ihm gefunden weiß.“ Wie konkret sich diese Erfahrung im Alltag niederschlagen kann, schilderte er am Beispiel seiner Wahrnehmung am Hauptbahnhof in Nürnberg, von wo aus der per Zug nach Ochsenfurt gekommen war.
Schleicher bezeichnete Mystik als „Leben im Bewusstsein, dass Gott in den Herzen aller Menschen lebt, und zwar im konkreten Alltag“. Für Gott und den Glauben sei nichts zu banal, und es brauche „erst recht keine Sonderwelt der Religion dafür“. Für ihn ist „Mystik eine Haltung, die mich aus engen dogmatischen und moralischen Vorstellungen befreit hat.“
Nach den Worten des Referenten wurde im Lauf der Kirchengeschichte aus dem Glauben ein kirchlich verwaltetes System. Dabei habe man vergessen, dass „der Glaube eigentlich ein Beziehungsgeschehen ist“. Und weiter: „Das Christentum ist ein Lebensstil und keine Dogmensammlung oder moralische Anstalt“. Religion sei vielfach ein Mittel, um „aus der Leere in eine Scheinwelt zu flüchten“. Daher würden Gottesdienste gerade von jungen Menschen oft als „langweilig“ empfunden. Vielmehr gelte es, neue Formen zu finden, die dem eigenen Leben Sinn geben.
Schleicher sieht Jesus als Archetypen für den Menschen, „das sagen fast alle Mystiker“. Das Weihnachtsfest, bei dem die Menschwerdung Gottes gefeiert wird, hat für ihn die Botschaft: „Es ist gut, Mensch zu sein. Es ist gut, dass wir so sind, wie wir sind“. Diese Aussage findet sich schon im Schöpfungsbericht der Bibel, wo es heißt: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut.“ Die Zusage Jesu im Evangelium: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ mache zudem mutig und selbstbewusst. „Die Gegenwart Gottes in jedem Menschen hat für mich Hand und Fuß“, so der Theologe. So sei auch klar, dass Mystik interreligiös und damit auch „gut ökumenisch“ sei.
Schleicher berief sich auf die Bibel ebenso wie auf eine lange Reihe von MystikerInnen angefangen bei den Kirchenvätern über Johannes Tauler (14. Jahrhundert) bis hin zu heutigen Vertretern wie die 2003 verstorbene evangelische Theologin Dorothee Sölle, den Franziskaner Richard Rohr oder den Benediktiner David Steindl-Rast. Er selbst wurde von Frère Roger aus Taizé geprägt, durch den er die Bibel entdeckt habe und die „heilende und befreiende Botschaft Jesu. Das hat mich heute nicht mehr losgelassen.“
Der Vortrag „Mitmensch Gott. Mystische Spiritualität für heute“ wurde von der KLB, dem Pastoralen Raum Ochsenfurt und dem Referat Geistliches Leben der Diözese Würzburg veranstaltet. Johannes Schleicher (Jahrgang 1955) leitete 2004 bis 2009 als Nachfolger von Pierre Stutz das Offene Kloster Abbaye de Fontaine-André in Neuchâtel (Schweiz). Von 2009 bis 2016 war er im Haus VIA CORDIS St. Dorothea in Flüeli tätig, danach in Basel. Seit 2020 ist er Seminarleiter und geistlicher Begleiter. Er ist Autor mehrer Bücher und lebt in Nürnberg.